Interview mit Fabian Nemitz von Germany Trade & Invest (GTAI)

Die Ukraine ist als Agrarland bekannt, aber welche weiteren Wirtschaftszweige gibt es?

Richtig, der Agrarsektor ist der wichtigste Sektor in der Ukraine. Die Landwirtschaft steht für rund 10 Prozent des BIP. Die Nahrungsmittelindustrie ist der wichtigste Industriezweig. Die Exporte von Agrargütern und Nahrungsmitteln stehen für rund 45 Prozent der gesamten Warenausfuhr. Allerdings könnte in diesem Bereich die Wertschöpfung im Land weiter ausgebaut werden, indem Landwirtschaftsprodukte in der Ukraine stärker veredelt werden, statt nur als Rohwaren exportiert zu werden.

Weitere wichtige Bereiche sind der Bergbau und die Metallindustrie. Die Exporte von Erzen und Metallen stehen für rund ein Viertel der ukrainischen Warenexporte.

Die ukrainische Wirtschaft verfügt über eine breite industrielle Basis. Allerdings war der Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen Jahrzehnten rückläufig. Die Produktion in einstigen Schwerpunktbranchen wie dem Maschinen- und Fahrzeugbau, der Luft- und Raumfahrtindustrie oder der Chemieindustrie liegt deutlich unter dem Niveau früherer Tage. Das liegt daran, dass in diesen Bereichen weniger investiert wird und die Nachfrage durch den Wegfall der Sowjetunion zurückging.

Andererseits gewinnt der Dienstleistungssektor immer mehr an Bedeutung. Das gilt besonders für den IT-Sektor, der seit einigen Jahren boomt.

Und wie sieht es im Energiebereich aus?

Erneuerbare Energien spielen auch eine wichtige Rolle und in den Jahren ab 2015 wurde relativ viel in diesen Bereich investiert. Das hing damit zusammen, dass es in der Ukraine im internationalen Maßstab einen lukrativen grünen Tarif gab. Allerdings kam dieser Boom 2021 zum Erliegen, da es Zahlungsrückstände gegenüber den Erzeugern von grünem Strom gab. Außerdem wurden die grünen Tarife nachträglich gesenkt. Damit wurden Investoren abgeschreckt.

Ein weiteres Problem ist die Frage, wie viel die Stromnetze überhaupt an grüner Energie aufnehmen können und wie viel Kapazitäten vorhanden sind, um die Netze zu balancieren.

Letztlich bleibt offen, wann das neu gedachte Auktionsmodell für grüne Energie eingeführt wird. Trotzdem bietet die Ukraine in diesem Bereich großes Potential wegen der großen Fläche und der Nähe zur EU. Ein wichtiges Thema betrifft grünen Wasserstoff, was ein Teilaspekt der Energiepartnerschaft mit Deutschland ist.

Welche Rolle spielen ausländische Investoren bei den Wirtschaftsbereichen?

Gerechnet in Pro-Kopf-Zahlen liegt die Ukraine beim Bestand ausländischer Direktinvestitionen deutlich hinter den westlichen Nachbarländern wie Polen oder der Slowakei. Gründe hierfür liegen an Schwierigkeiten im Investitions- und Geschäftsklima sowie dem Konflikt mit Russland. In jüngster Zeit wächst aber das Interesse an einem Engagement in der Ukraine. Laut AHK Ukraine gab es in den jüngsten Monaten so viele Anfragen wie nie zuvor. Impulse kommen von neuen Investitionsanreizen der ukrainischen Regierung und besseren Möglichkeiten für Industrieparks.

Schwerpunktbranche für ausländische Direktinvestitionen sind der Bankensektor, die Nahrungsmittelindustrie, Kfz-Zulieferer und die Baustoffproduktion. Die wichtigsten Herkunftsländer für ausländische Direktinvestitionen sind Zypern und die Niederlande. Ein Grund hierfür ist der Firmensitz ukrainischer Unternehmen in diesen Ländern.

Deutschland stand 2019 an vierter Stelle. Deutsche Investoren sind vor allem in den Bereichen Produktion von Kfz-Teilen, Baustoffen, der Produktion von Saatgut, dem Handel und der Logistik tätig.

Wie verhält es sich bei den Wirtschaftszweigen mit dem Außenhandel – welche spielen für Deutschland eine Rolle?

Deutschland ist nach China das zweitwichtigste Lieferland der Ukraine. Deutsche Unternehmen sind in allen Bereichen tätig. Das Gros der deutschen Exporte entfällt auf Maschinen, chemische Erzeugnisse und Kfz. Innerhalb der chemischen Erzeugnisse spielen Arzneimittel eine wichtige Rolle. Im Bereich des Maschinenbaus ist Landwirtschaftstechnik sehr groß, aber auch die anderen Techniksektoren werden abgedeckt.

Wie sieht es mit Startups aus und in welchen Bereichen werden neue Unternehmen hauptsächlich gegründet?

Die Ukraine verfügt über eine sehr lebendige Startup-Szene. Die Branche profitiert von dem großen Pool an Talenten im IT-Sektor. Eine genaue Übersicht über die Bereiche liegt mir nicht vor. Ich nehme an, der größte Teil der Gründungen entfällt auf den IT-Sektor. Zahlreiche Startups beschäftigen sich in den Bereichen Agritech, Fintech und der Medizintechnik.

Auf internationaler Ebene gibt es einige sehr erfolgreiche Startups mit ukrainischen Wurzeln. Dazu zählen Grammarly, Petcube, Reface und People.ai. Häufig verlagern erfolgreiche Startups ihre Firmensitze ins Ausland. In vielen Städten in der Ukraine arbeitet man aber am Aufbau von Ökosystemen, wo sich Startups wohlfühlen. Hierzu zählt zum Beispiel Unit-City in Kiew.

Welchen Ausblick haben Sie für die Ukraine in der derzeitigen Situation?

Eigentlich gibt es in der ukrainischen Bevölkerung keine Panik, was sich nur bedingt in der deutschen Berichterstattung abspiegelt. Wirtschaftlich betrachtet, hängt es davon ab, sollte es zu einem Krieg kommen, wie dieser aussieht. Sind es weitere Nadelstiche in der Ostukraine oder kommt es zu einem großflächigen Einmarsch in die Ukraine? Deshalb ist es schwer, eine Prognose abzugeben. Wenn es nur weitere Nadelstiche sind, wird die Wirtschaft weiterarbeiten.

Jüngst meldete die European Business Association, dass die in der Ukraine tätigen Unternehmen bleiben wollen. Trotzdem würde ein Krieg, egal in welcher Form, die Wirtschaft stark treffen. Bei einem großflächigen Einmarsch muss man nicht weiter diskutieren, wobei dieses Szenario von den wenigsten als wahrscheinlich betrachtet wird.

Die Szenarien, mit denen unter anderem die Nationalbank der Ukraine (NBU) rechnet, gehen von keiner größeren Eskalation aus. Demnach würde die ukrainische Wirtschaft weiterwachsen. Zwar wurden die Prognosen der NBU wegen der Spannungen mit Russland etwas gesenkt, aber für diese Senkung gibt es auch andere Faktoren wie zum Beispiel die hohen Gaspreise, die Corona-Pandemie, Probleme bei den Lieferketten in der Weltwirtschaft…

Allerdings wird die ukrainische Wirtschaft wachsen. Die NBU rechnet für 2022 mit einem Plus von rund 3 Prozent und in den Folgejahren dürfte sich das Wachstum dann auf bis zu 4 Prozent beschleunigen.

Zudem steht die Ukraine makroökonomisch relativ gut da, wenn man den Stand der Devisenreserven betrachtet. Sorge bereitet im Moment die hohe Inflation bei den Verbraucher- und Produzentenpreisen. Die Industrieproduktion entwickelt sich nur unterdurchschnittlich und schöpft ihr Potential nicht aus.

Insgesamt sieht es für die ukrainische Wirtschaft positiv aus. Das Wachstumstempo bleibt allerdings zu niedrig, um den Anschluss an zum Beispiel Polen zu schaffen. Wichtig ist, dass Reformen, vor allem im Bereich der Justiz, weiter umgesetzt werden, dass die Zusammenarbeit mit dem IWF und der EU weiterverfolgt wird und dass die Korruptionsbekämpfung nicht stockt.

Zu GTAI und Fabian Nemitz:

Germany Trade & Invest (GTAI) ist die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Mit über 50 Standorten weltweit unterstützt sie deutsche Unternehmen bei ihrem Weg ins Ausland, wirbt für den Standort Deutschland und begleitet ausländische Unternehmen bei der Ansiedlung in Deutschland. GTAI hat nach eigenen Angaben 412 Beschäftigte, davon 325 im Inland und 87 im Ausland. Die Bundesrepublik Deutschland ist Alleingesellschafterin und wird durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz vertreten.

Fabian Nemitz studierte Internationale Volkswirtschaftslehre in Tübingen und arbeitet seit 2007 bei Germany Trade & Invest. Von 2012 bis 2017 war er in Almaty in Kasachstan und ist seither in Kiew. Im Sommer 2022 geht es für ihn zurück nach Deutschland und das Kiewer Büro wird neu besetzt.

Das Interview wurde am 03.02.2022 von Jörg Drescher, Büroleiter des Deutsch-Ukrainischen Forums e.V., online geführt.