Ukraine: Der Feind im eigenen Land

Nein, Anarchie gibt es keine in der Ukraine, wie uns der junge Autor Serhij Zhadan mit dem Titel seiner jüngsten Prosa suggerieren will: „Anarchy in the UKR“. Zhadan stammt aus der östlichsten Provinz der Ukraine und gehört zu den prägenden Figuren der neuen wilden Literatur. Er wird bei der von der „Alten Schmiede“ veranstalteten „Literatur im Herbst“ mit anderen ukrainischen Autoren diskutieren und aus seinen Büchern lesen.

Darin geht es schon anarchisch zu: „Kinder sollten sehen, wie Massen Fabriken und Supermärkte besetzen, Büros und Antiquitätengeschäfte stürmen, es sich auf Ledersofas in Bankgebäuden bequem machen, in Galerien mit moderner Kunst ein Lagerfeuer entzünden und mehrtägige frohe Orgien veranstalten, die im kollektiven Delirium enden“, heißt es am Ende des Bandes. Der beschreibt aber nicht den tatsächlichen Zustand des zweitgrößten Landes Europas. Die Ukraine hat zwar eine Menge Probleme, herrschaftslos ist sie jedoch nicht. Eher kann sich die Bevölkerung für keine Herrschaft entscheiden. Im Dezember wird innerhalb von vier Jahren zum dritten Mal gewählt.

Eines der Probleme: die Sprache. Von den fast 48 Millionen Einwohnern verstehen fast alle Russisch, viele – für einige zu viele – sprechen nur Russisch, andere dagegen antworten auf Ukrainisch, wenn sie Russisch angesprochen werden. Ein Taxifahrer in Lemberg radebrecht lieber Deutsch, als ein russisches Wort in den Mund zu nehmen, eine Stadtführerin in Kiew beklagt, dass keine Regierung seit 1991 etwas zur Förderung des Ukrainischen unternommen habe. Andrej Kurkow dagegen beschwert sich über die Diskriminierung des Russischen in seiner Heimat. „Es gibt hier Journalisten, die behaupten, ukrainische Literatur ist nur, was auf Ukrainisch geschrieben ist.“ Kurkow ist in St.Petersburg geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in Kiew und versteht sich als ukrainischer Autor, der auf Russisch schreibt. Im ostukrainischen Charkow hingegen, wo Serhij Zhadan lebt, wird behauptet, dass er der einzige ukrainische Autor sei, der auf Ukrainisch publiziert. Eine nationale Identität ist solcherart schwer herstellbar. Die Nationenbildung des jungen ukrainischen Staates hat aber eben erst begonnen.

Vielleicht schweißt ja die Finanzkrise die divergenten Teile des Landes zusammen. Macht sie doch wieder alle gleich arm. Die Schere zwischen Arm und Reich ist nämlich im vergangenen Jahrzehnt weit aufgeklappt. Krankenfürsorge gibt es noch keine, ein Rentner bekommt unter 100 Euro im Monat und ein Lehrer nicht viel über 120. Andererseits werden im Zentrum Kiews heute Mieten von 2000 Euro und mehr verlangt – und bezahlt. Die Hauptstadt zelebriert ihren neuen Reichtum. Die Preise in den Cafés rund um den Majdan, dem Schauplatz der „Revolution in Orange“ (2004), übersteigen jene am Lemberger Rynok deutlich. Trotzdem ist der Zuzug nach Kiew groß, weil es auf dem Land kaum Arbeit gibt.

Ein Sinnbild für die Probleme des Landes stellt der Hügel mit dem Höhlenkloster dar. Unmittelbar neben dem Hauptsitz der ukrainischen Orthodoxie haben die Sowjets ihr „Museum der Geschichte des vaterländischen Krieges“ mit der riesigen Statue der „Mutter Heimat“ errichtet. Beten im Höhlenkloster eine wachsende Schar von Gläubigen mit Inbrunst zu den zahlreichen dort in gläsernen Särgen ausgestellten Heiligen, so trauern ein paar hundert Meter weiter „Ostalgiker“ unter Stalinorgeln und Skat-Raketen dem verlorenen Sowjetreich nach.

Wie Pinguine seien die ukrainischen Menschen seit der Unabhängigkeit, so Kurkow. Die sind nämlich die am meisten sowjetischen Tiere: Nimmt man einen Pinguin weg von der Gruppe, dann weiß er nicht mehr, wo er hingehen soll. So ging es den sowjetischen Leuten nach 1991, als die Parteistrukturen wegfielen. Kurkow hat das Bild deshalb bereits zweimal für Titel seiner Romane verwendet: „Picknick auf dem Eis“ (2000) und „Pinguine frieren nicht“ (2003). Er hatte es nach der Wende nicht leicht, zu publizieren, weil die Verlage keine russischen Bücher wollten. Viele Verleger nahmen das Geld von kanadischen Exilukrainern, die nur ukrainischsprachige Belletristik fördern wollten, und publizierten schlechte Literatur. So wurde fast ein Jahrzehnt einer neuen ukrainischen Literatur versäumt.

 
Aufbruch mit lyrischen Performances

„Es gab einen großen Nachholbedarf in den 1990er-Jahren“, ergänzt der Lyriker und Übersetzer Tymofiy Havryliv, der eben einen Odysseus-Roman fertigstellt. Er erzählt, dass in den 1930er-Jahren über 500 Schriftsteller ermordet oder in den Gulag gesteckt worden sind. Dieser intellektuelle Aderlass bewirkte eine 50-jährige Blutleere der ukrainischen Literatur. 1985 gründete Oleksandr Irwanez mit Juri Andruchowytsch und Viktor Neborak die „Bu-ba-bu-Gruppe“. Die war mit ihrer lyrischen Performance dann nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland, Polen und der Tschechoslowakei erfolgreich. Deshalb wetterte Andruchowytsch nach dem Beitritt der ehemaligen „Bruderstaaten“ zur EU heftig über die Ausgrenzung der Ukraine: Seit die Schengen-Grenze an die Ukraine reiche, sei der Austausch mit Polen und der Slowakei gekappt.

Dabei war Polen doch lange Zeit der Hauptfeind der Westukrainer, meint Kurkow. Haben sie doch bereits 1654 einen Pakt mit Russland gegen Polen geschlossen. Havryliv dagegen sieht in Polen den verlässlichsten Partner der Ukraine in ihrem Streben nach Europa. Für den Herausgeber der Kiewer Literaturzeitschrift „Krytyka“, Andrej Mokroussov, ist Galizien ein europäischer Kulturraum, der künstlich getrennt wurde und immer nach Westen ausgerichtet war. „Für die Westukraine“, so Kurkow, „ist die Sowjetunion schlimmer als Nazi-Deutschland.“

Ganz anders sieht das die ältere Generation in Charkow oder Doneck. Für die Ost- ukrainer waren die Rotarmisten die Befreier, und der Feind sitzt auch heute nicht in Moskau, sondern in Lemberg und Ternopil.