Anarchy in the UKR

In kürzester Zeit hat sich der 1974 geborene Serhij Zhadan zum literarischen Superstar der Ukraine geschrieben: Der heute 34jährige hat bereits acht Lyrikbände und nun mit “Anarchy in the UKR” seinen fünften Prosaband vorgelegt. Wer Zhadans Lesungen besucht, betritt Säle und Kneipen überfüllt wie bei Popkonzerten.

Serhij Zhadan ist nicht mehr oft in seiner Heimatstadt. Doch wenn Lesungen anstehen im geliebten Charkiv sind Kulturzentren, Kneipen, manchmal auch Stadien gefüllt wie bei Popkonzerten. Mit Verzückung lauscht ihm dann das zumeist junge Publikum.

Ich betrachte das, was in der Ukraine in den letzten fünf, sechs Jahren geschieht als sehr positiv. Die Ukraine hat sich wirklich sehr verändert. Und anders, als ich es manchmal in westlichenMedien lese, bin ich der Meinung, das sich die russischsprachige Ostukraine viel schneller entwickelt als die Westukraine. Ganz einfach, weil es hier vielmehr Dinge gibt, die wirklich verändert werden müssen.

In seinem neuesten Buch “Anarchy in the UKR” nimmt Zhadan uns mit auf eine Reise in den Donbass, wo die Schächte “unbeugsamen Bergleuten auf den Kopf rieseln” und sich die Felder, wie “schwarze Damenunterwäsche” vor ihm ausbreiten. Aus Erinnerungen an “ferne, von Kadavern und gebrauchten Kondomen gesäumte Landstraßen” rekonstruiert er die Seelenlandschaft der ersten postsowjetischen Generation der Ukraine.

Meine Hauptfiguren verheiraten sich aus Prinzip und erhängen sich aus Protest, … , aus Leichtsinn und Abenteuerlust lassen sie sich auf Verbrechen ein, sie lieben ihr Vaterland ohne jeden ideologischen Unterton, die meisten … wissen selbst, dass der Zufall sie an diesem abgefahrenen Ort in dieser seltsamen Zeit zur Welt gebracht hat und irgendwo im Hintergrund tauchen ihre Eltern auf, müde und ausgelaugt, wie ein kaputtes Herz schleppen sie die ganze Geschichte ihres Landes, ihres endlosen Überlebenskampfes, der irgendwann zu Ende geht, ihnen aber trotzdem keine Erleichterung verschafft.”

Ich muss ihnen sagen, dass wir uns nie befasst haben mit unseren sowjetischen Wurzeln. Mir gefällt diese Generation sehr, die man vielleicht sogar als erste antisowjetische Generation bezeichnen kann.

“Anarchy in the UKR” ist zugleich der Titel eines Songs der “Sex Pistols”. Es verwundert nicht, dass Serhij Zhadan sich gerade von ihm zu Teilen seines neuen Buches inspirieren ließ. In den 80iger Jahren, so erklärt er, lag das Sowjetreich bereits in Agonie. Der Punk ersetzte damals für große Teile der Jugend die Ideologie.

1992, ich war gerade 17, da gründete ich mit Freunden eine Gruppe. Wir nannten uns “Die rote Fuhre”. Unser Zuhause war das Literaturmuseum, um das herum sich eine Art (5:36) Punk-Kommune von Charkiver Verlierern zusammenfand. Ich schlief damals in diesem Museum und ich begann da auch zu schreiben. Aber ich habe das damals noch nicht als ernsthafte Tätigkeit betrachtet. (6:19) Die Zeit damals war eher eine Schule des Überlebens, an die ich heute mit einer gewissen Sentimentalität zurückdenke.

Zhadan beschreibt diese Zeit völlig unsentimental. Mit einer an den Punk erinnernden drastischen Sprache zaubert er zuweilen melancholische Bilder einer Zeit-Reise, die jene These zu widerlegen vermag, von der “Orangenen Revolution” sei nichts mehr übrig geblieben.

Ich bin mit dieser These überhaupt nicht einverstanden. Das liegt weniger an der “orangenen Revolution”, sondern vor allem an der Bürgergesellschaft, die sich von da an langsam zu bilden begann. Den Anfang machten die Proteste gegen die Kutschma-Erben des Janukowitsch-Regimes, das ja heute wieder an der Macht ist. Die Revolution legte die Grundlage für eine starke Bürgerbewegung, die sich zur Zeit in der Ukraine herausbildet.

Egal ob in Charkiv oder Zhadans Geburtstadt Luhansk, überall hinterlässt diese Bürgerbewegung sichtbare Zeichen. Kleine Klebezettel mit Einladungen zu Lesungen. Dort, wo gestern noch eine blinde Fensterscheibe war, befindet sich heute die Auslage einer neuen Buchhandlung. Seit der Orangenen Revolution erlebt das Lesen in keinem anderen Land Osteuropas eine solche Renaissance wie in der Ukraine, meint Zhadan.

Im Prinzip hatte die Revolution viel damit zu tun, dass sich in der Ukraine in den letzten Jahren ein wirklicher Buchmarkt zu entwickeln begann. In der Ukraine ist es “in” zu lesen, besonders unter Jugendlichen. Und das ist mittlerweile nicht nur ein ästhetisches Phänomen, sondern ein wirtschaftliches. Mit Büchern kann man in der Ukraine inzwischen Geld verdienen.

“Anarchy in the UKR” sei das Porträt seiner Generation. Um die Ukraine, so schreibt Zhadan, müsse niemandem bange sein, weil sich niemand um seine, also die erste postsowjetische Generation Sorgen machen müsse.

Ein Kind, das von klein auf die ganze Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit … des Systems erkennt, in den es durch den Willen des Schicksals geraten ist – so ein Kind hat keine schlechten Chancen … . Sorgen machen muss man sich eher um die, die sich nicht aus der Abhängigkeit der nächsten Bankfiliale befreien können, um die muss man sich wirklich Sorgen machen, denn aus ihren Reihen kommen die Serienmörder und die öffentlichen Politiker, freie Künstler, gehen daraus nicht hervor.
Ich glaube, dass wir heute wieder solche Kommunen brauchen wie damals, weil viele Menschen erst in solchen kreativen Gemeinschaften ihr Potential voll entfalten können. Wenn ich mit meiner Literatur die ersten 100 000 Dollar verdient habe, werde ich ein altes Pionierlager bei Charkiv kaufen und dort 200 Punks ansiedeln. Tagsüber werden sie nützliche Arbeit verrichten, zum Beispiel rote Rüben sammeln und abends werden sie “Sex Pistols” hören …Literatur und Nationalbewusstsein
Mit dem ukrainischen Literaturstar Serhij Zhadan durch Kiew
Von Mirko Schwanitz

In kürzester Zeit hat sich der 1974 geborene Serhij Zhadan zum literarischen Superstar der Ukraine geschrieben: Der heute 34jährige hat bereits acht Lyrikbände und nun mit “Anarchy in the UKR” seinen fünften Prosaband vorgelegt. Wer Zhadans Lesungen besucht, betritt Säle und Kneipen überfüllt wie bei Popkonzerten.

Serhij Zhadan ist nicht mehr oft in seiner Heimatstadt. Doch wenn Lesungen anstehen im geliebten Charkiv sind Kulturzentren, Kneipen, manchmal auch Stadien gefüllt wie bei Popkonzerten. Mit Verzückung lauscht ihm dann das zumeist junge Publikum.

Ich betrachte das, was in der Ukraine in den letzten fünf, sechs Jahren geschieht als sehr positiv. Die Ukraine hat sich wirklich sehr verändert. Und anders, als ich es manchmal in westlichenMedien lese, bin ich der Meinung, das sich die russischsprachige Ostukraine viel schneller entwickelt als die Westukraine. Ganz einfach, weil es hier vielmehr Dinge gibt, die wirklich verändert werden müssen.

In seinem neuesten Buch “Anarchy in the UKR” nimmt Zhadan uns mit auf eine Reise in den Donbass, wo die Schächte “unbeugsamen Bergleuten auf den Kopf rieseln” und sich die Felder, wie “schwarze Damenunterwäsche” vor ihm ausbreiten. Aus Erinnerungen an “ferne, von Kadavern und gebrauchten Kondomen gesäumte Landstraßen” rekonstruiert er die Seelenlandschaft der ersten postsowjetischen Generation der Ukraine.

Meine Hauptfiguren verheiraten sich aus Prinzip und erhängen sich aus Protest, … , aus Leichtsinn und Abenteuerlust lassen sie sich auf Verbrechen ein, sie lieben ihr Vaterland ohne jeden ideologischen Unterton, die meisten … wissen selbst, dass der Zufall sie an diesem abgefahrenen Ort in dieser seltsamen Zeit zur Welt gebracht hat und irgendwo im Hintergrund tauchen ihre Eltern auf, müde und ausgelaugt, wie ein kaputtes Herz schleppen sie die ganze Geschichte ihres Landes, ihres endlosen Überlebenskampfes, der irgendwann zu Ende geht, ihnen aber trotzdem keine Erleichterung verschafft.”

Ich muss ihnen sagen, dass wir uns nie befasst haben mit unseren sowjetischen Wurzeln. Mir gefällt diese Generation sehr, die man vielleicht sogar als erste antisowjetische Generation bezeichnen kann.

“Anarchy in the UKR” ist zugleich der Titel eines Songs der “Sex Pistols”. Es verwundert nicht, dass Serhij Zhadan sich gerade von ihm zu Teilen seines neuen Buches inspirieren ließ. In den 80iger Jahren, so erklärt er, lag das Sowjetreich bereits in Agonie. Der Punk ersetzte damals für große Teile der Jugend die Ideologie.

1992, ich war gerade 17, da gründete ich mit Freunden eine Gruppe. Wir nannten uns “Die rote Fuhre”. Unser Zuhause war das Literaturmuseum, um das herum sich eine Art (5:36) Punk-Kommune von Charkiver Verlierern zusammenfand. Ich schlief damals in diesem Museum und ich begann da auch zu schreiben. Aber ich habe das damals noch nicht als ernsthafte Tätigkeit betrachtet. (6:19) Die Zeit damals war eher eine Schule des Überlebens, an die ich heute mit einer gewissen Sentimentalität zurückdenke.

Zhadan beschreibt diese Zeit völlig unsentimental. Mit einer an den Punk erinnernden drastischen Sprache zaubert er zuweilen melancholische Bilder einer Zeit-Reise, die jene These zu widerlegen vermag, von der “Orangenen Revolution” sei nichts mehr übrig geblieben.

Ich bin mit dieser These überhaupt nicht einverstanden. Das liegt weniger an der “orangenen Revolution”, sondern vor allem an der Bürgergesellschaft, die sich von da an langsam zu bilden begann. Den Anfang machten die Proteste gegen die Kutschma-Erben des Janukowitsch-Regimes, das ja heute wieder an der Macht ist. Die Revolution legte die Grundlage für eine starke Bürgerbewegung, die sich zur Zeit in der Ukraine herausbildet.

Egal ob in Charkiv oder Zhadans Geburtstadt Luhansk, überall hinterlässt diese Bürgerbewegung sichtbare Zeichen. Kleine Klebezettel mit Einladungen zu Lesungen. Dort, wo gestern noch eine blinde Fensterscheibe war, befindet sich heute die Auslage einer neuen Buchhandlung. Seit der Orangenen Revolution erlebt das Lesen in keinem anderen Land Osteuropas eine solche Renaissance wie in der Ukraine, meint Zhadan.

Im Prinzip hatte die Revolution viel damit zu tun, dass sich in der Ukraine in den letzten Jahren ein wirklicher Buchmarkt zu entwickeln begann. In der Ukraine ist es “in” zu lesen, besonders unter Jugendlichen. Und das ist mittlerweile nicht nur ein ästhetisches Phänomen, sondern ein wirtschaftliches. Mit Büchern kann man in der Ukraine inzwischen Geld verdienen.

“Anarchy in the UKR” sei das Porträt seiner Generation. Um die Ukraine, so schreibt Zhadan, müsse niemandem bange sein, weil sich niemand um seine, also die erste postsowjetische Generation Sorgen machen müsse.

Ein Kind, das von klein auf die ganze Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit … des Systems erkennt, in den es durch den Willen des Schicksals geraten ist – so ein Kind hat keine schlechten Chancen … . Sorgen machen muss man sich eher um die, die sich nicht aus der Abhängigkeit der nächsten Bankfiliale befreien können, um die muss man sich wirklich Sorgen machen, denn aus ihren Reihen kommen die Serienmörder und die öffentlichen Politiker, freie Künstler, gehen daraus nicht hervor.
Ich glaube, dass wir heute wieder solche Kommunen brauchen wie damals, weil viele Menschen erst in solchen kreativen Gemeinschaften ihr Potential voll entfalten können. Wenn ich mit meiner Literatur die ersten 100 000 Dollar verdient habe, werde ich ein altes Pionierlager bei Charkiv kaufen und dort 200 Punks ansiedeln. Tagsüber werden sie nützliche Arbeit verrichten, zum Beispiel rote Rüben sammeln und abends werden sie “Sex Pistols” hören …