Die Ukraine im Fokus: Berlin diskutiert über die Parlamentswahlen

Diskussion
Am 17. Oktober 2012 wurde die Podiumsdiskussion „Ukraine in Focus: Pre-Election Perspectives of Candidates and Experts” von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und dem German Marshall Fund of the United States (GMF) durchgeführt. Es diskutierten ukrainische Parlamentsabgeordnete Andrii Shevchenko und Yurii Myroshnychenko, Rostyslav Pavlenko sowie Vertreter von ukrainischen und internationalen Think-Tanks Valerii Chalyy, Mykola Kapitonenko und Oleh Shamshur.

Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass der freie und transparente Verlauf der Parlamentswahlen in der Ukraine ein wichtiger Test für die Demokratie sowohl nach innen als auch nach außen sein wird und dass es dem ganzen politischen Spektrum des Staates darum geht, dass dieser bestanden wird. Bei einem großen Prozentsatz der unentschlossenen Wähler, der laut Umfragen zur Zeit der Veranstaltung bei etwa 30%  lag (so Valerii Chalyy vom Rasumkow-Zentrum) bleibt bis zum Wahltag noch vieles offen. Auch wenn die Partei der Regionen die meisten Stimmen bekommt, birgt diese Parlamentswahl eine reale Chance, dass eine starke Opposition ins Parlament mit einzieht (Oleh Shamshur, GMF).

In diesem Zusammenhang plädierte Oleh Shamshur für weitere Schritte in Bezug auf das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Dieses würde einen guten Rahmen für demokratische Entwicklungen schaffen, die von der künftigen Regierung zu tragen sind. Die Vertreter der Opposition bezeichneten wettbewerbsfähige Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung als Prioritätsbereiche, mit denen die politischen Oppositionskräfte sich auseinandersetzen sollen. Dazu zählen ebenfalls die Meinungs- und Pressefreiheit (Andrii Shevchenko, BJuT-Batkiwschtschyna) und die Dezentralisierung der Wirtschaft (Rostyslav Pavlenko, UDAR). Die Annäherung an die EU bleibt für die Ukraine nach wie vor eine außenpolitische Priorität, beteuerten die Politiker inklusive Yurii Myroshnychenko (Partei der Regionen).

Am 19. Oktober 2012 fand mit der Unterstützung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und der grünen Fraktion im Europäischen Parlament das Fachgespräch „Vor den Parlamentswahlen – wohin steuert die Ukraine?“ statt. Über die ukrainische Innenpolitik vor und nach den Wahlen diskutierten Fachexperten Wilfried Jilge, Stefanie Schiffer und Dr. Andreas Umland. Internationalen Aspekte der Parlamentswahlen bildeten die Schwerpunkte für die Panellist/-innen Dr. Susan Stewart, Dr. Stefan Meister und Iryna Solonenko. An dem Gespräch beteiligten sich desweiteren Viola von Cramon, MdB und Werner Schulz, MdEP.

Wilfried Jilge von der Universität Leipzig skizzierte die jüngsten innenpolitischen Entwicklungen in der Ukraine und plädierte für Konstruktivität, Kohärenz und Kontinuität seitens der EU. Diese soll von der Ukraine keine neuen Reformen verlangen, sondern klare Schlüsselkriterien nennen (z.B. Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen u.s.w.), die dem Staat eine tatsächliche Annäherung an die EU-Standards ermöglichen können. Auf die pro-europäische Rhetorik der Swoboda-Partei, die laut Umfragen gute Chancen hat, nach den Wahlen ins ukrainische Parlament einzuziehen, ging anschließend Dr. Andreas Umland von der Kiewer Mohyla-Akademie in seinem Beitrag ein. Stefanie Schiffer vom Europäischen Austausch e.V. legte die Änderungen im ukrainischen Parlamentswahlsystem dar, die im Wahlgesetz vom 17. November 2011 enthalten sind (Rückkehr zur gemischten Wahl, Verbot der Blockbildung, 5%-Klausel u.a.m.), und berichtete von den Ergebnissen der bisherigen Wahlbeobachtung seitens der OSZE-ODIHR, der ukrainischen und internationalen Zivilgesellschaft. Als Kritikpunkte wurden u.A. geringe Teilnahme von Frauen an den Parlamentswahlen, Verletzung der Freiheiten von registrierten Wahlkandidaten und eine große Anzahl an angeblich technischen Parteien, die sich zur Wahl stellen, genannt.

Im Expertenaustausch über die außenpolitischen Perspektiven der Ukraine meinte Dr. Susan Stewart von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dass in erster Linie einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der EU im Bereich Energieversorgung, Visaliberalisierung und Aufbau der Zivilgesellschaft eine große Bedeutung beigemessen werden soll. Iryna Soloneko von der Europa-Universität Viadrina sprach sich ebenfalls für vertiefte Zusammenarbeit im technischen Bereich unter Anwendung der s.g. sektoralen Aktionspläne sowie für die Unterstützung seitens der EU bei der Mobilisierung der ukrainischen Zivilgesellschaft aus. Dr. Stefan Meister von der DGAP stimmte den beiden Expertinnen, die sich gegen rasche Schritte bei der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens aussprechen, zu, dass es der Miteinbeziehung der Zivilgesellschaft in politische Entscheidungsprozesse in der Ukraine bedarf, damit sich der Spielraum rund um die EU-Bestrebungen des Staates weiter nach außen öffnet. Laut Stefan Meister kommt dabei eine Schlüsselrolle dem Freihandelsabkommen zu: Der EU soll daran liegen, die Instrumente der Zusammenarbeit, die ihr in der Region zur Verfügung stehen, erfolgreich anwenden zu können.

Diskussion
Am 23. Oktober 2012 lud der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft zusammen mit dem Berthold-Beitz-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zu der Diskussionsrunde „Die Ukraine und die EU: Wahlen, Integration und wirtschaftliche Perspektiven“ ein. Die Veranstaltung wurde von dem European Centre for a Modern Ukraine (ECFMU) angeregt. Es diskutierten u.A. Außenminister der Ukraine Kostyantyn Gryshchenko, Präsident der EU-Kommission a.D. Romano Prodi und Vize-Präsident a.D. Günter Verheugen, Präsident der Republik Polen a.D. Aleksander Kwasniewski sowie Bundeskanzler der Republik Österreich a.D. Alfred Gusenbauer.

Außenminister Gryshchenko sprach von der EU-Integration als einer klaren außenpolitischen Strategie der Ukraine, die im Gesetz über die Grundlagen der Innen- und Außenpolitik des ukrainischen Staates festgelegt wird. Er bezog sich sowohl auf die laufenden Reformen, u.A. im Bereich der Justiz und der Unternehmensregistrierung, als auch auf den erfolgreichen Auftritt der Ukraine als Gastgeber der Fußball-EM 2012 um zu verdeutlichen, dass die Ukraine in Sachen Infrastruktur, Kommunikation und Sicherheit in die europäische Richtung steuert. „Wir glauben an das europäische Model“, beteuerte Außenminister Gryshchenko. Die Ukraine habe definitiv vor, mit den Reformen fortfahren; positive Signale von der EU wären dabei eine große Hilfe.

In diesem Sinne äußerte sich der ehemalige Erweiterungskommissar der Europäischen Kommission Günter Verheugen für eine klare Perspektive der EU-Zukunft für die Ukraine, die ihre außenpolitische Wahl bereits getroffen habe. „Die Ukraine würde sonst nicht über das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU verhandeln“, so Dr. Verheugen. Von einer Pflicht seitens der EU, die Ukraine nicht im Stich zu lassen, sprach auch der ex-Präsident der Europäischen Kommission Romano Prodi.

Aleksander Kwasniewski argumentierte, dass zum einen die Werte der europäischen Gemeinschaft, zum anderen aber auch die geopolitischen Interessen gute Gründe dafür sind, dass die EU sich der Ukraine öffnet, sobald die Voraussetzungen für weitere politische und wirtschaftliche Integration erfüllt sind. Um an den Punkt zu gelangen, bedarf es in der Ukraine laut Kwasniewski weiterer Reformen im Justiz- und Verwaltungswesen, der wirtschaftlichen Dezentralisierung und des daraus resultierenden Abbaus der Bürokratie sowie effektiver Korruptionsbekämpfung und einer produktiven Zusammenarbeit zwischen den führenden politischen Kräften im Parlament.

Klare Signale von der EU können diese Reformen in der Ukraine beschleunigen und für mehr Stabilität sorgen, meinte Günter Verheugen. Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Gusenbauer hob ebenfalls die Wichtigkeit der Stabilität in der Region hervor, die auf der Zusammenarbeit der Ukraine und der EU basiert und somit auch ein deutliches Zeichen für die Konstruktivität in den Beziehungen zwischen der EU und Russland setzt.

„Wir müssen realpolitisch alles dafür tun, damit das Assoziierungsabkommen Realität wird“, sagte zum Schluss der Diskussion der Bundestagsabgeordnete Johannes Wadephul (CDU). Die Ukraine müsse sich für die EU entscheiden und das Assoziierungsabkommen sei ein gutes Instrument auf diesem Weg. Auch innerhalb der EU muss erkannt werden, so Wadephul, dass die ukrainische Frage wieder stärker an die EU-Tagesordnung kommt. „Es gibt den politischen Willen in Berlin, das Abkommen zu unterschreiben“, sagte Wadephul. – „Es müssen sich allerdings die beiden Seiten darauf hin bewegen. Wir wollen, dass es gelingt.“

Autor: Olga Chala

Fotos: Ukrainische Botschaft Berlin