Farbenspiele. Die Ukraine nach der Revolution in Orange

Im September soll in der Ukraine ein neues Parlament gewählt werden. Damit treibt der Machtkampf zwischen dem Präsidenten und dem Premier auf eine Entscheidung zu. Wohin allerdings das Land treibt, welche Farben demnächst dominieren, das ist noch unklar. Wie es aussehen könnte, darüber gibt ein Buch von Wolfgang Templin Aufschluss: “Farbenspiele. Die Ukraine nach der Revolution in Orange”. Robert Baag hat es gelesen.

Spätherbst, Winter 2004/2005 – der so genannte Majdan im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Schauplatz der “Revolution in Orange”, die das System des weithin verhassten Präsidenten Leonid Kutschma implodieren lassen wird:

“Zusammen sind wir viele”, heißt es in diesem Lied der Gruppe Greenjolly, das bald im mächtigen Chor zur Hymne der Majdan-Revolution avanciert und weiter:

“Uns kann man nicht besiegen
Fälschungen – nein!
Manipulationen – nein!
Faule Kompromisse – nein!
Lügen – nein!
Juschtschenko! Juschtschenko!
Er ist unser Präsident
Dreimal: Ja!”

Zweieinhalb Jahre ist das jetzt her. Von der mitreißenden Stimmung damals, mit dem strahlenden Siegerduo Julia Timoschenko/Viktor Juschtschenko, die ganz Europa verblüfft nach Osten hatten blicken lassen auf ein weitgehend unbekanntes Land namens Ukraine, von diesem Hochgefühl ist nicht viel übrig geblieben. Was also ist los mit der Ukraine, die heute zum Synonym geworden ist für eine permanent anmutende Staatskrise, für Chaos und sich gegenseitig blockierende politische Kräfte?

In dieser Situation kommt eine Neuerscheinung aus dem Osnabrücker fibre-Verlag fast wie gerufen. Dort erschien unlängst ein Band, der es sich zur Aufgabe macht, das Phänomen Ukraine zu erklären. Und so viel vorab: Dem Autoren, Wolfgang Templin, ist dies mit “Farbenspiele – Die Ukraine nach der Revolution in Orange” weitestgehend gelungen. Sicher, ein Gefahrenpotenzial für die innere Stabilität sei nicht zu leugnen, meint Templin angesichts des offenen Gegensatzes zwischen Ministerpräsident Viktor Janukovytsch und Staatspräsident Viktor Juschtschenko, dem einstigen Herold der Reform, der viel von seinem Glanz und Charisma eingebüßt hat. Bei dem Tauziehen handele sich um ein, wie er formuliert, “lärmendes Patt”, aber:

“Es ist eine Geschichte, die dahintersteht, die auch von Phasen der Resignation, dem tief einwohnenden Gefühl der Unterlegenheit bestimmt ist, und wenn eine Geschichte von solchen Erfahrungen stark geprägt ist, dann ist natürlich die Reaktion, Muskeln spielen zu lassen, so eine Art Reflex dazu – diese fast Kosaken-Haltung: ‘Ich zeig Dir meinen Säbel. Zeig mir, ob Deiner größer ist!’ – Also, so etwas steckt da tatsächlich drin.”

Templins Ansatz will die Entwicklung und die Perspektiven der zeitgenössischen Ukraine vor allem aus ihrer Geschichte ableiten. Dies wirkt überzeugend und nachvollziehbar. Er beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf die großen Linien, geht allerdings mit sicherer Hand dort auf Details ein, wo sie unverzichtbar erscheinen. All dies ist geschrieben in einer wohltuend unprätentiösen Sprache – und zwar nicht nur für ein einschlägig vorgebildetes Publikum. Vier große Hauptabschnitte haben Templin interessiert: die Zwischenkriegszeit, zwischen 1918 und 1939 – mindestens im Westen der Ukraine ein bürgerliches Zwischenspiel mit habsburgisch-polnischen Traditionselementen -, die sowjetische Epoche, der nach-sowjetische Abschnitt sowie der Ausblick auf die Zukunft.

Anders als das im Westen zur Mode gewordene so genannte 68er-Bashing, wonach an fast allen postmodernen Beschwernissen der Gegenwart die anti-autoritäre Studentenbewegung der 60er/70er Jahre schuld sein soll, bürstet Templin gegen den Strich und teilt eine hierzulande kaum bekannte Beobachtung aus jener Zeit mit, die indes Indiz-Charakter hat:

“In der Spätphase des sowjetischen Imperiums lassen sich Außenseiter- und Nischen-Existenzen in nahezu allen Ostblock-Staaten finden, witzig, […] aber auch grotesk und tragisch. […] In den westukrainischen Lemberger Kellercafés der siebziger Jahre konnte man sowjetische Blumenkinder aus dem Baltikum, Transkaukasien und Zentralrussland finden. Von der Miliz verfolgt und in Arrest gesteckt, feierten sie ihre Feste und zogen in die Berge der Karpaten. Das aufrührerische Lemberg als westlicher Vorposten des Riesenreichs war ein Magnet, ähnlich wie Vilnius, Riga und Tallinn.”

Schon damals, zu den Stagnationszeiten unter Breshnjew hat die nonkonformistische Jugend auch tief hinten im realsozialistischen Osten Rebellionsgedanken aus dem Westen aufgesogen. Allerdings war dies eine Einbahnstraße. Der Eiserne Vorhang war noch ziemlich undurchdringlich. Deshalb ist es für Templin auch kein Wunder, dass die bisweilen aggressiv-unterwürfige Mentalität des “Sovok” – so der abschätzig-selbstironische Jargonausdruck für “Sowjetmensch” – noch heute ihr Unwesen treibt. Bei den meisten jener Ukrainer, die bis in die 90 Jahre hinein sozialisiert worden sind, lassen sich derlei Denk- und Verhaltenselemente entdecken – übrigens

“…nicht nur auf der Janukovytsch-Seite. Da ist es vielleicht am ungebremstesten. Da ist die Haltung in die Tiefe des Lagers hinein verbreitet. Aber ich würde sagen: nahezu lagerübergreifend. Alle Akteure auf der großen Bühne, die wir vor Augen haben, ob ich Janukovytsch nenne oder Juschtschenko, Julia Timoschenko, sind spät-sowjetisch, sind postsowjetisch, geprägt in ihren Biographien mit ganz verschiedenen Verläufen.”

Überzeugend räumt Templin mit einem lieb gewordenen Klischee auf, der angeblich immanenten und unüberbrückbaren Spaltung der Ukraine in einen west- und ost-orientierten, gleichsam russland-hörigen Teil des Landes. Auf seinen wochenlangen Recherchereisen, die ihn auch in den ukrainisch-russischen Grenzstreifen geführt haben, kommt Templin zu überraschenden Einsichten, war doch auch ihm diese vermeintliche Spaltung der Ukraine wenigstens unterbewusst präsent:

“Aber was uns zum Beispiel in Charkiv, einer ganz klassisch ostukrainischen Industriemetropole begegnete, war ein anderer aber ebenfalls sehr starker Zugang zur ukrainischen Nationalgeschichte. Charkiv mit seiner russischen Prägung, eben auch in den Zeiten der Teilung der Ukraine Teil Russlands, hat eine ins 19. Jahrhundert zurückreichende ukrainische Nationalbewegung, eigentlich der zweite Strang neben dem Habsburgisch-Westukrainischen. Hier war das akademische Zentrum: Charkiv eine ganz starke Inspirationsquelle, Charkiv als Zentrum der Sowjetukraine, zeitweilig ja sogar Hauptstadt, hat sich diesen intellektuellen Zugang immer erhalten: die zweite große Majdan-Stadt. Das ist hier völlig übersehen worden”

und dabei zugleich auch das Widerstandspotenzial, auf das diese mit angeblich sowjetisch betonhartem Beharrungsvermögen versehene, überwiegend russisch-sprachige Stadt seit geraumer Zeit stolz sein darf. Schon im 18. Jahrhundert war die einst als russischer Militärstützpunkt gegründete Stadt auch ein Zentrum kosakisch-freiheitlicher Steppen-Tradition, der “slobodá”. Und selbst in totalitären Zeiten schien sich dort ein unabhängig denkendes Milieu sein nonkonformes Bewusstsein bewahrt haben.

“Charkiv hat auch in allen Zeiten der Sowjetukraine eine ganz starke intellektuelle und dissidentische Präsenz gehabt, eine der für uns spannendsten Menschenrechts- und historischen Gruppen mit dem russischen ‘Memorial’ vergleichbar. Die ukrainische ‘Helsinki-Föderation’ haben wir in Charkiv getroffen. Und dort ist uns dieser Zugang noch mal ganz deutlich geworden: kein enger Nationalismus dieses patriotischen Ansatzes, der in der West-Ukraine immer sehr stark war.”

Im Nachhinein naheliegend, bei der ersten Lektüre aber doch verblüffend sind jene Erkenntnisse, die Templin im direkten Vergleich mit Entwicklungen in Russland gewinnt, was es mit der Ukraine verbindet:

“Im post-sowjetischen Erpresserstaat – hier ging es nicht nur um ein ukrainisches Phänomen – mischten sich Elemente des alten und des neuen Systems: Im Zentrum stand die Errichtung einer politischen Machtvertikale, klassisch-kommunistisch verkörpert im demokratischen Zentralismus mit dem allmächtigen Zentralkomitee/Politbüro an der Spitze. Dessen Platz nahmen im Erpresserstaat der Präsident und die Präsidialverwaltung ein. Bei Wahrung einer demokratischen Fassade, mit Parlament, Parteien, Wahlen und scheindemokratischen Institutionen, war der Fluss von Informationen und Herrschaftswissen, waren die Entscheidungsprozesse strikt hierarchisch geregelt. Da die kommunistische Ideologie und der massive Terror als Mittel der Überzeugung oder der Einschüchterung fortfielen, trat die jederzeit mögliche Erpressung an ihre Stelle.”

Auf diesem Nährboden konnten jene Kräfte ihre Stunde und den vorläufigen Niedergang der “Revolution in Orange” abwarten, zu dem es rascher kommen sollte, als viele es für möglich gehalten hätten: Mangel an Professionalität, gegenseitiges Misstrauen, Eitelkeiten sowie eine alteingesessene Bürokratie, die mit hinhaltendem Widerstand oder offener Obstruktion den Reform-Elan vieler “Orangener” erfolgreich zu lähmen vermochte – alles Stichworte und Gründe, die zum “lärmenden Patt” am Dnipro geführt haben. Templins Urteil ist nüchtern und schonungslos:

“Janukovytsch und seine politische Mannschaft standen nicht für den Osten der Ukraine, eine bestimmte sprachliche oder kulturelle Identität. Sie standen für die postsowjetische Mentalität eines imaginären ‘dazwischen’, für die Anlehnung an Russland und die Blockade des europäischen Weges. Mit ihnen konnte sich nur die Einheit der Interessen von Nomenklatura, zweifelhaften Geschäftsleuten und Kriminellen auf neuer Stufe durchsetzen.”

Dennoch: Templins vorläufige Bilanz mündet nicht in Pessimismus. Die eigene Biografie als DDR-Oppositioneller wird ihn ebenso davor bewahrt haben wie seine Jahrzehnte währende Beschäftigung mit den diversen Widerstandsformen und -bewegungen im ehemaligen sozialistischen Lager, zum Beispiel im Polen der “Solidarnosc”. Auch wenn die Farbe Orange in der Ukraine inzwischen viel an Strahlkraft verloren haben mag, Templin setzt bei allen Risikofaktoren für die nahe Zukunft am Ende dennoch auf vorsichtig abwägenden Optimismus.

“Die Chance, dass die dritte Möglichkeit für ‘Orange’ mit den Neuwahlen kommt, sehe ich. Die ist da. Chancen vermehren sich nicht ungezählt. Wenn man die nächste wieder verstreichen lässt, fällt die Ukraine zwar nicht in die post-sowjetische Vorzeit zurück, aber sie wird eine noch viel längere und noch viel schwierigere Bewegung im Niemandsland durchmessen müssen.”

Wolfgang Templin: Farbenspiele. Die Ukraine nach der Revolution in Orange
fibre Verlag, Osnabrück, 2007
239 Seiten, 24 Euro