„Ich kann bis heute nicht verstehen, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können”

Der Künstler Luigi Toscano, 49, geboren 1972 in Mainz, wird am 1. Oktober von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für sein Projekt „Gegen das Vergessen“ mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit 2014 fotografierte er weltweit rund 400 Holocaust-Überlebende und stellte diese Fotos an vielen Orten in der Welt, darunter im Herbst 2016 auch in Babyn Yar in Kyjiw aus. Ein eigentlich simples Konzept, das aber weltweit für Schlagzeilen sorgte,  Millionen Menschen bewegte und dazu beitrug, die ganze Tragik und Dimension des Holocaust in ihr Bewusstsein zu bringen. Die Ausstellungen gehen bis heute weiter, u.a. auch an vielen Schulen. Er selbst ist inzwischen selbst ein viel gefragter Zeitzeuge und Interviewpartner. Viele der Holocaust-Überlebenden, die er porträtierte und die er über ihre Lebensgeschichten befragte, leben (oder lebten)  in der Ukraine, hochbetagt. Neben Babyn Yar waren auch die ukrainischen Städte Dnipro, Lwiw und Perjeslaw Austellungsorte, weitere sollen folgen, demnächst u.a. Charkiw. Im Interview mit dem Stellvertretenden Vorsitzenden des Deutsch-Ukrainischen Forums, dem Berliner Journalisten Gerald Praschl erklärt Luigi Toscano, was ihn, einen Sohn italienischer Gastarbeiter in Deutschland, so an dem Thema anzog und wieso ihn seine Erlebnisse in der Ukraine , wo er viele Holocaust-Überlebende traf und fotografierte, besonders bewegten.
Das Interview fand am 29. September 2021 in Berlin statt.

2016 sorgte die Ausstellung ihrer Bilder von Holocaust-Überlebenden in der Gedenkstätte Babyn Yar weltweit für Presseecho. Wie kam es zu dieser Ausstellung?

Einerseits wollte ich herausfinden, wie ich mich als Künstler weiterentwickle, und andererseits wie es ist, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Dabei stellte ich fest, dass etwas passiert. Vor diesem Projekt hatte ich eine ähnliche Ausstellung mit Asylbewerbern gezeigt. Ich merkte, dass ich damit provozieren, zum Denken anregen kann.

Sie haben über 400 Holocaust-Überlebende fotografiert, darunter, auch mit Hilfe von Aktion Sühnezeichen, viele aus der Ukraine. Sie haben dazu alle persönlich getroffen, mit vielen über ihre Schicksale gesprochen. Was haben Sie dabei erlebt?

Angela Belyak von Aktion Sühnezeichen in Kyjiw schaffte es, innerhalb von einer Woche 80 Überlebende zu organisieren, die ich fotografieren durfte. Dabei gab es eine lustige Begebenheit, denn ich nannte die alten Damen immer Babotschka. Und sie haben mich immer so verliebt angeschaut. Ich dachte, ach Gott, die sind aber nett zu mir. Irgendwann tippte mir Angela auf die Schulter und meinte, dass Babotschka Schmetterling heißt und ich doch Babuschka, das Kosewort für Oma, sagen soll.

Ich war auch in kleineren Dörfern in der Ukraine, wo die Opfer oft überhaupt erstmals über ihr Schicksal sprachen. Nicht mal mit ihren eigenen Kindern oder Enkeln hatten sie darüber gesprochen.  Unter Stalin, aber auch zur späteren Sowjetzeit war das ja wenig angeraten. Und viele wollten ihre Nachfahren damit vielleicht auch nicht belasten. Ich war manchmal der erste, mit dem sie offen darüber redeten. Eine Überlebende lud zu unserem Gespräch ihre gesamte Familie ein, mit denen sie nie zuvor darüber gesprochen hatte. Es gab viele Tränen. Aber ich habe auch Menschen getroffen, die nicht einfach bereit waren, mir ihre Geschichte zu erzählen. Sie ließen sich fotografieren, aber sonst schwiegen sie. Dabei merkte ich, dass das, was ich bisher gehört hatte, schon schlimm war, doch in diesen Fällen, spürte ich, dass es noch schrecklicher geht. Ich akzeptierte dies, denn an oberster Stelle stand, den Menschen zu respektieren.

Tatsächlich gingen mir die Geschichten so sehr an die Substanz, dass ich Schlafstörungen bekam und mich selbst in eine Therapie begeben habe. Dabei lernte ich, mit dem umzugehen, was mir berichtet wurde. Ich bin auf jeden Fall ein großes Stück reifer durch dieses Projekt geworden.

Viele der Holocaust-Überlebenden in der Ukraine, die jüngsten über 80, leben in großer Armut. Wie gingen Sie damit um?

Das ist schlimm. Die meisten der Holocaust-Überlebenden dort sind auf sich alleine gestellt, daneben sind auch Trauma-Therapien oder psychologische Betreuung für sie unerreichbar. Dazu kommt die wirtschaftliche Not. Wir brachten den Leuten etwas Brot, Wurst und Käse mit, was wir – eigentlich anders, als das in ihrer Kultur bei Gastgeschenken üblich ist, nicht feierlich übergaben, sondern still in der Wohnung abstellten und der Person nur zunickten. Aber trotz ihrer Armut wollten uns die Leute etwas zurückgeben, wenigstens einen Tee oder ein bisschen zu Essen. Wir hatten uns bei unseren Besuchen dafür geniert und oft dankend, meist vergeblich, abgelehnt. Aber als ich einmal von einem solchen Treffen wiederkam, hatte ich ein Butterbrot in meiner Tasche gefunden, die Holocaust-Überlebende hatte es mir heimlich zugesteckt.  Ich habe bei Interviews mit Holocaust-Überlebenden in anderen Ländern, wie in den USA natürlich auch Überlebende – ebenfalls aus Osteuropa stammend – getroffen, die in weit besseren wirtschaftlichen Verhältnissen lebten. Ihre Leidensgeschichten waren nicht weniger schrecklich, es waren dieselben. Aber natürlich ist es besonders bedrückend, dass in Osteuropa, wie in der Ukraine, Holocaust-Überlebende oder ehemalige Zwangsarbeiter, heute hochbetagt, trotz aller Opfer-Entschädigungsregelungen nicht nur mit den schrecklichen Erinnerungen, sondern auch noch in oft großer Altersarmut leben müssen.

Sie sind ein in Deutschland geborener Sohn italienischer Gastarbeiter. Was berührte sie so am Thema Holocaust?

Bis heute habe ich noch die italienische Staatsbürgerschaft und hatte als Jugendlicher Probleme mit den Behörden wegen meiner Aufenthaltsgenehmigung. Ich wurde immer als Ausländer behandelt, obwohl ich in Deutschland geboren wurde und mich mit dem Land und seiner Geschichte identifiziere. Ich spreche und denke deutsch. Mein Italienisch ist nebenbei, nicht allzu gut. Als wir in der Schule das Thema Holocaust hatten, war ich einerseits fasziniert, aber andererseits auch sehr erschrocken darüber, wie das passieren konnte. Und weil es in der Schule keinen Raum gab, meine Fragen zu beantworten, fuhr ich im Alter von 18 Jahren nach Auschwitz, in der Hoffnung, dass dort jemand ist, um mir Antworten zu geben. Aber da war niemand. Ich bin durch die Ausstellung gegangen und stand wie gelähmt fast zwei Stunden vor dem Berg an Kinderschuhen. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können.

Millionen Menschen haben ihre Bilder gesehen. Was denken Sie, was hat Ihr Kunstprojekt „Gegen das Vergessen“ erreicht?

Jedes Holocaust-Projekt ist eine Gratwanderung, bei dem es darum geht, den Holocaust nicht zu missbrauchen. Es geht meiner Meinung darum, den Inhalt in den Vordergrund zu stellen, nicht die Person oder ihr Kunstprojekt. Ich wurde dadurch berühmt, doch bin ich noch gar nicht so weit, das alles zu verarbeiten. Sehr schön finde ich, dass sich so viele Schulen für das Projekt interessieren. Bei vielen Schulausstellungen kommen wir mit den Schülern ins Gespräch und sie fangen dann selbst an zu recherchieren und sich zu interessieren. Es gibt eine Statistik, die besagt, dass über 50 Prozent der heutigen Jugendlichen keine Ahnung vom Holocaust haben, weshalb es wichtig ist, darüber zu sprechen. Und wir sind inzwischen nicht nur an deutschen Schulen – Europa ist groß, es gibt viel zu tun.

Infos  über das Projekt “Gegen das Vergessen” unter  www.luigi-toscano.com