Was wird uns so kyrillisch?

Askold Melnyczuk, 1954 als Sohn ukrainischer Einwanderer an der amerikanischen Ostküste geboren, hat für seine literarischen Imaginationen auch in seinem jüngsten Buch wieder die Ukraine gewählt und sie dafür wie ein literarisches Puppenhaus eingerichtet – ein bisschen Isaak Babel hier, ein bisschen Kommunismus dort, und in der Mitte ein paar liebenswerte Kriminelle, die ein Bordell im Stil einer karitativen Unternehmung betreiben. Die Dienstbotenzimmer in Kiew, die gute Stube in Wien und das Studierzimmer, wie es sich gehört, in Oxford. Dazu gibt es die Geschichte von einem Vater, der als erfolgloser Einwanderer in den Vereinigten Staaten dem Alkohol verfiel, um seine osteuropäische Herkunft ein Geheimnis machte und sich am Ende vor den Augen des eigenen Sohnes eine Kugel durch den Kopf jagte.

Jetzt will der Sohn herausfinden, was es mit der ukrainischen Mischpoke und einem britischen Militärpass auf sich hat und fährt dazu nach Oxford, wo auch der Vater vor seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten bei einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, weil die eigene Mutter ihn in den Wirren der ukrainischen Hungerjahre einem Matrosen buchstäblich in die Hand gedrückt hatte. Als britischer Soldat und Militärdolmetscher, das wiederum stellt sich nun heraus, war dieser Vater nach dem Krieg in Deutschland seinem Bruder begegnet, ohne verhindert zu haben, dass dieser den sowjetischen Militärbehörden überstellt wurde. Der eine fährt nach Sibirien, um zu schuften, der andere nach Kanada, um zu vergessen. Im Wien von heute stößt der Freizeitgenealoge nun aber nicht auf vom Schicksal gebeutelte, kirchenmausarme Huzulen, sondern auf eine muntere Familienmafia mit geschäftlichen Verbindungen in alle Welt, als deren Pate sich die Großmutter Vera und als deren Zentrum sich ein Freudenhaus in Kiew entpuppt. Nach dem Krieg fing Vera selbst als Prostituierte in Wien an und entwickelte daraus eine Geschäftsidee, die sich über den Kommunismus bis in die zweifelhafte Ökonomie der Transformationsgesellschaft als tragfähig erwies.

Das alles – oder auch Teile davon – hätte mit weniger Klischees und mehr psychologischem Tiefgang, vielleicht auch mit etwas mehr Sinn für historische Wahrscheinlichkeiten ein passabler Roman werden können, wenn, ja wenn der Autor sich nicht in belanglosen Dialogen und obskuren Nebenschauplätzen voller schicksalstriefender Protagonisten wie der traumatisierten Palästinenserin oder der bleistiftberockten Inderin verlaufen hätte. Auf Seite zweihundert rätselt man immer noch, wo es bei dieser Reise gen Osten eigentlich hingehen soll. Die Bilder stimmen nicht, die Sentenzen klingen altklug und hohl. Verrottende Waggons stehen in der Ukraine mitnichten seit der Revolution auf dem Abstellgleis, sie sehen nur für amerikanische Ostalgiker so aus. Man muss auch nicht erwähnen, dass die unverständlichen Graffiti kyrillisch sind. Was sonst bitte sollten sie sein? Und auf eine “geistige Tiefe”, die die Toten und Ermordeten Odessa angeblich verleihen, würde die Stadt vermutlich liebend gern verzichten. Am Ende fragen wir uns mit dem heimgekehrten Helden, wofür das alles gut war, und sind heilfroh, dass der Familienausflug beendet ist.

Askold Melnyczuk: “Das Witwenhaus”. Roman. Aus dem Amerikanischen von Andrea Marenzeller und Martin Amanshauser. Deuticke Verlag, Wien 2008. 310 S., geb., 19,90 [Euro].