Zweiter Anlauf. Ukrainische Literatur heute

Mit einem Vorwort von Karin Warter und einem Nachwort von Alois Woldan. Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan und Roman Dubasevych. Mit Beiträgen von Juri Andruchowytsch, Halyna Petrosanjak, Tymofi Hawryliw, Natalka Bilozerkiwez, Oksana Sabuschko, Serhi Schadan, Taras ProchaskoKarin Warter / Alois Woldan und Mykola Rjabtschuk.

Nicht wenige Ukrainer haben in den letzten Jahren ihr Land verlassen, weil sie im westeuropäischen Woolworth-Paradies das Nachfolgesystem eines Sozialismus zu finden hoffen, der auf niedrigem Niveau für alle sorgt. Die Dichter aber bleiben. Sie gewinnen der Schäbigkeit Poesie ab. “Ein Land bedeckt von Kot. / Ein Land, in dem wir leben müssen / Um seinen sauren Wein zu trinken”, beginnt wenig zuversichtlich ein Gedicht des 1971 geborenen Tymofi Hawryliw. Dann richtet sich der Blick aber doch langsam in die Höhe: “Und trotzdem / Es allein zu lieben . . . / Ein Land, in dem die Nachtigall / Hosanna singt dem Henker. / Ein Land, wo grün die Wälder sind / Und blau des Himmels Seide.”

Und orange die Revolution, darf man inzwischen ergänzen. Wer heute mit geweckter Neugier eine Anthologie jüngerer ukrainischer Literatur in die Hand nimmt, wird darin nach den Spuren jener politischen Entwicklungen suchen, die sich zur Überraschung des übrigen Europa jüngst dort ereigneten. Hat die Literatur vielleicht sogar mitgeholfen, die Dinge zum Besseren, Hoffnungsvolleren zu wenden?

In der Ukraine leben 48 Millionen Menschen, von denen allerdings nur etwa zehn Prozent zur ukrainischen Sprachgemeinschaft gehören. So schnurrt die große Vorstellung eines Leselandes schnell auf das Bild einer kleinen Literatur zusammen. Da zudem eine nennenswerte Autorenförderung durch Stipendien oder Preise fehlt, ist eine Existenz als Berufsschriftsteller kaum möglich. Die Kurzform der Lyrik war deshalb schon produktionstechnisch lange die bevorzugte Gattung ukrainischer Literaten. Selbst über den inzwischen berühmten Juri Andruchowytsch ging das Bonmot um, er schreibe seine Romane montags – weil er sich an den anderen Tagen der Lebenserhaltung widmen müsse.

In den achtziger Jahren war er der Kopf der Autorengruppe “BuBaBu” (Balagan-Buffonade-Burleske), die eine antitotalitäre, bohemehafte Karnevalisierung der Literatur betrieb. “Zweiter Anlauf” enthält einige Kostproben – keineswegs formal anarchische, sondern mit virtuoser Verspieltheit aufwartende Gedichte. Die 1960 geborene Oksana Sabuschko ist neben Andruchowytsch die renommierteste Beiträgerin des Bandes; ihr Roman “Feldforschungen auf dem Gebiet des ukrainischen Sex” (1996) war in den Vereinigten Staaten erfolgreich. Manche ihrer Gedichte sind von einem ebenso faszinierten wie distanzierten Blick auf die Herkunftswelt gekennzeichnet: “In diesen kleinen Städten, wo man bis heute ,Gute Frau’ sagt, / Dort wo die Gotik vom Barock nur eine Wäscheleine trennt . . .”

Solche pittoresken Stadtansichten finden sich in vielen Gedichten. Nicht ohne Verfallsromantik wird vor allem das geschichtsträchtige Lemberg durchwandert. “Daß die Schönheit und der Adel dieser Stadt mit Worten nicht wiederzugeben sind”, heißt es in einem Gedicht der 1969 in einem Huzulendorf geborenen Halyna Petrosanjak, deren talentiertere Verse die Bergwelt der Karpaten beschwören. Wie sie gehört die Hälfte der Autoren zum “Stanislauer Phänomen”, das Alois Woldan im Nachwort als “spontane Eruption von jungen Talenten in einer bis dato bedeutungslosen Provinzstadt” beschreibt. Heute heißt das galizische Stanislau Iwano-Frankisk; inzwischen lebt auch Juri Andruchowytsch wieder dort.

Taras Prochasko, ebenfalls ein “Stanislauer”, gilt als Vertreter der ukrainischen Postmoderne. Der Enthusiasmus, mit dem sein Roman “Neprosti” aufgenommen wurde, überträgt sich bei der Lektüre des hier abgedruckten Kapitels allerdings nicht; die Ausführungen über die “Feinheiten der Scharfschützenkunst” wirken mühsam ironisch. Mykola Rjabtschuk ist in den siebziger Jahren mit Samisdat-Veröffentlichungen hervorgetreten. In der Zeit der Perestrojka wurde er zu einem führenden Intellektuellen des Landes. Von ihm ist ein allegorischer Text über die Absurditäten des Kommunismus zu lesen, dessen satirische Anspielungen in der Epoche des Untergrunds mutig waren.

Aus jüngerer Zeit stammt seine Erzählung “Acht Juden auf der Suche nach ihrem Großvater”, die das gespannte ukrainisch-jüdische Verhältnis thematisiert. Der Ich-Erzähler wehrt sich gegen “das ganze Inventar typisch amerikanischer Stereotype”, die die Ukraine mit Antisemitismus assoziieren. Dabei meint er auch die SS-Division “Galizien” in Schutz nehmen zu müssen, für deren “Befreiungskampf” heute in der Westukraine wieder Gedenkfeiern abgehalten werden. Einem der jüdischen Gäste wird über die Millionen ukrainischer Hungertoter in der Epoche der Stalinisierung mitgeteilt: “Davon haben Sie vielleicht gehört? Von diesem kleinen ukrainischen Holocaust?” Das kommt der Wortwahl ukrainischer Rechtsextremer nahe, die gerne polemisch vom “unbekannten Holocaust” sprechen. Warum dieser dubiose Text in die Anthologie aufgenommen wurde, bleibt jedenfalls rätselhaft.

Aus Charkow im Osten der Ukraine stammt Serhi Schadan, der jüngste Autor dieser Anthologie. Unter seinen Gedichten ist eine Hommage auf den polnischen Rock ‘n’ Roll der achtziger Jahre, “der die Karpaten überflog” und offenbar etwas Befreiendes hatte. Möglich, daß auch die ukrainische Literatur mit ihren Herbstfarben ein wenig zum politischen Frühling beigetragen hat. Aber wird es ihr gelingen, die Karpaten zu überfliegen? Der vorliegende Band stimmt eher skeptisch. Ein dritter Anlauf wird nötig sein.

WOLFGANG SCHNEIDER