Moscoviada

Nach den hoffnungsvollen Neuanfängen der orangefarbenen Revolution in der Ukraine gewinnen in diesen Monaten Vertreter der alten Nomenklatura erneut an Einfluss. Ein Grund mehr, die Ukraine genauer unter die Lupe zu nehmen, und dafür gibt es keinen besseren Gewährsmann als den Autor Juri Andruchowytsch. Er zählt zu den berühmtesten Vertretern der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Jetzt kommt sein Klassiker in deutscher Sprache heraus: “Moscoviada” heißt das Buch, das Andruchowytsch 1993 überall bekannt machte.

Ein Tag im Mai, Anfang der 90er Jahre, mitten in Moskau. Es ist kalt und verregnet. Der russische Winter hält an. Überall breitet sich Fäulnis aus: Täglich verlottert das Studentenwohnheim mehr, Kakerlaken erobern das Terrain, es schimmelt, der Putz fällt von den Wänden. Dieser Zustand passt zur Lage des sowjetischen Imperiums, das an allen Ecken und Enden auseinander driftet. Aber Otto von F., der ukrainische Held von Juri Andruchowytschs Roman “Moscoviada”, liegt ungerührt im Bett. Gerade taucht er aus den Tiefen des Nachtschlafs empor.

Du bewohnst ein Zimmer im siebten Stock, die Wände vollgehängt mit Kosaken und Staatsmännern der West-ukrainischen Volksrepublik; vor dem Fenster die Dächer Moskaus und freudlose Pappelalleen; den Fernsehturm von Ostankino sieht man nur von den Zimmern auf der anderen Seite – aber du spürst seine Nähe, er strahlt etwas Einschläferndes aus, Viren der Kraftlosigkeit und Apathie, deswegen wachst du morgens einfach nicht auf, wanderst von Traum zu Traum, von Land zu Land.

So tritt er uns entgegen, der Ich-Erzähler von “Moscoviada”, der sich selbst fortwährend in der Zweiten Person Singular anredet und diese Marotte hingebungsvoll pflegt. Seine weitschweifigen Ausführungen sind gespickt mit ironischen Anspielungen auf ukrainische und russische Dichter, denn schließlich studiert der Mann am Literaturinstitut Maxim Gorki und kam als hoffnungsvoller Lyriker nach Moskau. Seit einiger Zeit allerdings hat ihn die oblomovsche Trägheit gepackt. Otto von F., wie der halbherzige Student in unübersehbar an Habsburg gemahnender Weise heißt, ist ein Galizier alten Schlages mit mitteleuropäischer Seele und ebensolchen Empfindlichkeiten. Am liebsten verbrächte er seine Tage im Bett; die russische Alltagswelt ist ihm viel zu krude.

An diesem Morgen zwingen ihn seine Nachbarn mit ihren orientalischen Musikinstrumenten zum Aufstehen. Doch kaum hat er den Waschraum betreten, tönt aus der benachbarten Frauendusche ein betörender Sirenengesang. Natürlich ist Otto von F. kein bisschen schlauer als Odysseus und taumelt wehrlos in Richtung der fremdartigen Töne. Eine schwarze Schönheit steht singend unter der Dusche, der ukrainische Poet schreitet sofort zur Tat, und es kommt zum Geschlechtsverkehr auf glitschigen Kacheln.

Unter den höllenheißen Strömen dieses ewigen Wasserfalls wiegt ihr euch in einem fremdartigen afrikanischen Rhythmus. Dann hörst du, wie ihre Stimme zurückkehrt. Nicht so, wie sie gesungen hat, sondern lebendiger, geheimnisvoller. Vielleicht auch leidenschaftlicher. Es ist ein Flehen, ein Gebet. Und wegen dieser Stimme, ihrem fordernden Beben, gibst du die Zurückhaltung und Geduld auf, kannst dich kaum mehr beherrschen, glaubst, es nicht ertragen, nicht aushalten zu können. Die Orchidee vernichtet dich, sie bringt dich zum Schmelzen, saugt dich aus …

In beschwörenden Satzschleifen umspült der Ich-Erzähler das geschlechtliche Intermezzo, mythisch aufgeladen wie ein Urerlebnis, und von Homer bis Joyce gerät die abendländische Tradition in Wallungen. Mit tiefsinnigem Witz variiert Andruchowytsch in seinem Roman die Handlungsmodelle der Weltliteratur und lässt Otto von F. eine eintägige Reise durch die russische Metropole unternehmen. Es verschlägt den naiven Dichterjüngling nicht ganz freiwillig in die tiefen Schächte der Untergrundbahn, wo er sich in einem Gewirr aus Gängen, tropfenden Tunneln und beweglichen Mauern wieder findet.

Dort, in den Eingeweiden der Stadt, erschließt sich ihm endgültig das marode sowjetische Herrschaftssystem. Juri Andruchowytschs “Moscoviada” kommt daher wie ein Heldengesang unter umgekehrtem Vorzeichen, eine schillernde Mischung aus Dantes Jenseitsreise ohne Aussicht auf ein Paradies und den Abenteuern eines Taugenichts, angereichert von Spiegelungen, ironischen Brechungen und Verkehrungen der literarischen Vorbilder. Die Begegnung im Waschraum war nur ein Vorgeschmack. Von Anfang an arbeitet Andruchowytsch mit Übertreibungen oder Hyperbeln, wie die Stilfigur in der Rhetorik heißt, und übertrumpft jedes Erlebnis mit einem noch verrückteren, um auch dieses erneut zu überbieten, bis alles in eine Art entfesselten Karneval mündet.

Aber noch ist es nicht so weit, denn Otto von F. befindet sich im Studentenwohnheim und trifft nach seiner erotischen Morgengymnastik seine drei Dichterkollegen und Freunde Golizyn, Spatz und Rojtman an, allesamt Landsleute, zugleich ein Querschnitt durch die russisch-ukrainisch-jüdische Bevölkerung seiner Heimat. Zwar hatte schon die vergangene Nacht nach Cognac und polnischem Fusel in einer Orgie mit Arzneispiritus geendet, aber die Lust auf Alkohol und Betäubung ist ungebrochen. Die Truppe beschließt, eine Kneipe aufzusuchen.

Als alter Galizier, Otto von F., hast du dir eine Bierbar immer als eine gemütliche und trockene Höhle in einer altertümlich gepflasterten Straße vorgestellt, ein sympathisches Teufelchen mit wohlgerundetem Bauch auf dem Aushängeschild, gedämpftes Licht, leise Musik und ein Kellner, der die unerhörte Wortverbindung “Sie wünschen, bitte?” gebraucht. Du hast gehofft, deine Freunde würden dich in ein bernsteinfarbenes Paradies führen, das Gegenteil von nass, wild, Krach, Bumm, Angst, Putsch, Not. Stattdessen die Bierbar in der Fonwisin-Straße: eine unbegreifliche Konstruktion, eine auf- und zusammenklappbare Pyramide, eine Art Hangar in der großen asiatischen Steppe, von der ersten Mai-Melde überwuchert. Ein Hangar für Säufer. Hier starten sie zu ihren Kampfeinsätzen. Tausende finden hier Platz. Eine ganze Säuferdivision mit ihren Generälen, Obersten, Leutnants – und Rekruten, wie du einer bist. Die Bierbar in der Fonwisin-Straße ist ein Koloss von der Größe eines Bahnhofs, natürlich Kiewski, nicht Sawjolowski, eine gigantische Kläranlage vor den Toren der Hölle. Aber damit nicht genug. Daneben gibt es ein Stück Land von denselben Ausmaßen, begrenzt von Metallpfosten, auf denen ein Plastikdach ruht. Keine Wände. Nur Stacheldraht, der an das Stromnetz angeschlossen ist.

Eine Art Biertankstelle also ist das Ausflugsziel der vier Freunde. Was sich zuerst wie ein Possenspiel unternehmungslustiger Studenten frei nach Joseph Roth ausnimmt, entwickelt sich zu einer Milieustudie von eindringlicher Tiefenschärfe: Andruchowytsch bringt die sowjetische Tristesse und das postsozialistische Lebensgefühl der völligen Ausweglosigkeit auf den Punkt. Die Gesellschaft weist tiefe Risse auf, und jenseits eines stumpfen Alkoholkonsums gibt es kaum etwas, was die Menschen miteinander verbindet. Man überantwortet sich einem kollektiven Phlegma. Dass auch der Rausch in schmierigen Zelten zu Hunderten vollzogen wird und nichts mit Genuss oder gar Kultur zu tun hat, spricht Bände.

Hier zeigt sich der Zynismus des Systems: Die Bürger werden als willenlose Größe behandelt, der Einzelne ist nichts wert, individuelle Bedürfnisse existieren nicht, man will die Massen nur ruhig stellen. Wer die Bierbar an der Fonwisin-Straße frequentiert, muss sogar das Glas von Zuhause mitbringen. Eine Institution wie einen Kellner gibt es ebenso wenig, stattdessen absolviert der Gast einen labyrinthischen Parcours in Kafka-Manier, gelangt über lange Schlangen inklusive Raufereien zu einer gestrengen Geldwechslerin und über weitere Schlangen bis zu bierspuckenden Automaten.

Überstehen kann diese Prüfung nur, wer eine militärische Grundausbildung hinter sich hat. Das komplizierte Procedere ist eine metaphorische Verdichtung der Gesamtlage des Landes: alles funktioniert nach undurchschaubaren, geheimen Regeln, die jeder Logik entbehren und nur den Sinn haben, der Bevölkerung ihre Abhängigkeit bewusst zu machen und sie in Schach zu halten. Nach einigen Litern Bier erinnert sich Otto von F. an sein Tagesgeschäft: Eigentlich hatte er einen Freund treffen wollen, um die Herausgabe einer absolut zeitgenössischen und unverzichtbaren ukrainischen Zeitschrift zu bewerkstelligen.

Der zweite Programmpunkt war ein Besuch im Kaufhaus “Kinderwelt” gewesen, wo er Mitbringsel für die Kinder seiner Freunde erwerben wollte. Unser Held reißt sich also von der Kaschemme und hochpolitischen Diskussionen über die Unabhängigkeit der Ukraine los, annonciert bei besagtem Freund telefonisch sein Kommen und macht als erstes für ein Schäferstündchen bei seiner Geliebten Halt. Wieder kann es Andruchowytsch nicht bizarr genug sein: die Dame ist eine Schlangenfängerin und begibt sich auf der Suche nach neuen Exemplaren regelmäßig nach Zentralasien. Der Autor arbeitet mit Verzerrungen, die an Spiegelkabinette erinnern. Fratzenhafte Gestalten versammeln sich um den Helden, entsprungen aus Märchenbüchern und Gruselgeschichten, und mehr als einmal hat man das Gefühl, in einer Geisterbahn durch Moskau zu rauschen.

Nach dem Stelldichein bei der Schlangenfängerin und weiteren telefonischen Vertröstungen des wartenden Freundes begibt sich Otto von F. in das Kaufhaus “Kinderwelt”. Die Handlung gewinnt an Rasanz, der dramaturgische Knotenpunkt ist erreicht. Kaum hat er sich’s versehen, endet der geplante Einkauf in den Sphären der Unterwelt. Auf der Toilette nämlich wird Otto von F. von einem distinguiert wirkenden Herrn all seiner Eigentümer beraubt. Nicht nur die Brieftasche ist futsch, sondern vor allem ein mühsam erkämpftes Flugticket nach Kiew. Unerschrocken folgt der metropolengehärtete Literaturstudent dem Dieb, landet im Treppenhaus, steigt wie Dante in die Tiefe hinab, hat aber anstelle eines kundigen Vergil, der ihn geleitet, nur einen verkommenen Gauner zur Seite. Er findet sich in einem unübersichtlichen Gewirr von Kellergängen wieder, die sich als das Gedärm des Sowjetreiches entpuppen. Eine Hölle – nur dass die Sünder anders als in der Göttlichen Komödie nicht in Eisseen und Feuersbrünsten büßen müssen, sondern im Gegenteil überall das Sagen haben und den unerwünschten Besucher nach kurzer Zeit einbuchten.

In einem Käfig Wand an Wand mit blutrünstigen Riesenratten wird Otto von F. von seinem ehemaligen Verbindungsoffizier des KGB gestellt. In einer Rückblende erfahren wir von einem Anwerbungsversuch des KGB, der mit erpresserischen Maßnahmen, einer Unterschrift und dem Widerruf der Verpflichtung endete. Ausgerechnet jetzt steht Otto von F. der einstige Geheimdienstrepräsentant gegenüber, Saschko genannt, eine müder Mephistopheles-Verschnitt, der kaum verführerische Kräfte besitzt. Nicht einmal das Böse, so ließe sich diese Wendung deuten, hat in der abgewirtschafteten Sowjetrepublik noch ernstzunehmende Vertreter.

“Ich verfluche das Imperium”, verkündest du im Ton eines orientalischen Propheten. “Du?! Der ihm gedient hat treu und redlich?” “Saschko” lacht sardonisch, vielleicht hustet er auch nur wegen der feuchten Zigarette. Die erhabenen und zugleich trotzigen Läufe der Posaunen und Waldhörner zwingen dich, hitzig und verärgert zu antworten: “Ich hab nicht treu und redlich gedient! Und ich bin ohne Schuld! Denn keine Todessünde des Imperiums kroch mir in die Seele, ohne Flecken ist mein Leib!” “Saschko” springt vom Stuhl auf, läuft wie ein angeschossener Löwe im Käfig auf und ab und attackiert dich mit einem nicht weniger leidenschaftlichen Rezitativ: “Nicht schuld? Das hast du dir bequem zurecht gelegt! Nur schuldig vor dir selbst?! Soll heißen deine Sünden sind egal? Und das von dir, der nichts kennt als Verrat? Sogar ein Schriftstück unterzeichnet hat?!” Über seinem Kopf leuchtet etwas auf. Vielleicht ein Nimbus. “Und die erschlagen, tot, im Ew’gen Frost – zig, Hunderte, Millionen, Tausend? Du hast gezeichnet – und die Seele stirbt!…” Seine Worte versinken im stürmischen musikalischen Meer, tauchen wieder auf. Die Partie der Streicher wird immer unruhiger und komplizierter. Zum Glück aber löst sich aus der Tiefe des dichten kompositorischen Gewebes eine einsame, alles verzeihende Oboe. Du fasst frischen Mut: “Ich rettete ein fremdes Leben nur, doch wertvoller als Tausend abstrakte … “

In jambischen Versfüssen und strotzend vor Stilmitteln aus der Lyrik wie Inversion, Reihung und Ellipse verhandeln Otto von F. und Saschko die Angelegenheit. Die altertümliche Patina, die nicht zufällig an Goethes Faust gemahnt, wird durchbrochen von den eher prosaischen Bemerkungen des Erzählers, was einen komischen Effekt hat. Otto von F. vermeint, im Hintergrund ein Orchester spielen zu hören und versieht das Wortgefecht mit einem Soundtrack aus Posaunenläufen und Oboensoli. Auch sprachlich ist Juri Andruchowytschs “Moscoviada” ein Abenteuer. Von Sabine Stöhr mit Einfallsreichtum und literarischem Feingefühl großartig übersetzt, machen die vielen verschiedenen Stilebenen, die Fülle der Register und die verschlungenen Dialoge die Lektüre zu einem witzigen und bildungsreichen Unterfangen. Viele der Anspielungen auf die slawische Tradition sind dankenswerter Weise im Anhang erläutert. An dem postmodernen Zitatenfeuerwerk hätte Julia Kristeva, die französische Intertextualitätstheoretikerin, ihre helle Freude gehabt. Man kann nur erahnen, wie provokativ eine derartige Verfahrensweise auf die noch junge ukrainische Literatur Anfang der 90er Jahre gewirkt haben muss. Hier sucht jemand offensiv Anschluss an internationale Entwicklungen, experimentiert mit Erzählverfahren und Bildfolgen jenseits der tradierten Muster und gibt dem Ganzen dennoch einen eigenen, ukrainischen Anstrich.

Schon in den achtziger Jahren hatte Andruchowytsch die erstarrte Kulturszene mit seiner literarischen Performancegruppe Bu-Ba-Bu aufgemischt, ein poetisches Trio, das mit schrägen Lese-Rock-Tanzveranstaltungen die Säle füllte. Auch dass er bewusst auf Ukrainisch und nicht auf Russisch schrieb, war bemerkenswert. Mit “Moscoviada” bestätigt der Literaturaktivist seinen Ruf als surrealer Karnevalist. Die sich spiralförmig übersteigernden Abenteuer könnten die Gefahr der Abnutzung bergen – aber auch das passiert nicht. Andruchowytsch versteht sich auf die Kunst der Variation und setzt geschickt Rhythmusbeschleunigungen und Verlangsamungen ein. Der Höhepunkt seiner “Moscoviada” ist eine Parteiversammlung in einem der Säle des weitläufigen Kellergewölbes, bei der sämtliche Vertreter des Kremls verkleidet auftreten und Masken berühmter Persönlichkeiten tragen. Von Lenin über Iwan den Schrecklichen, von ehemaligen Großfürsten über verdiente Generäle bis hin zu den Helden der russischen Geschichte Minin und Poscharski, die im 17. Jahrhundert ein Volksheer begründeten, ist alles vertreten, was Rang und Namen hat.

Hier wird das ästhetische Prinzip des Karnevals, das Andruchowytschs gesamten Roman durchdringt, dann auch noch tatsächlich realisiert. Was zuvor als erzählerische Verfahrensweise bestimmend war, ist jetzt Gegenstand der Handlung. Es herrscht ein haltloses Gewimmel und Gewühl, ein Festgelage mit Vorträgen wird abgehalten, kurzum: wir sind endgültig in Absurdistan gelandet. Hinter einem Clownsgesicht verborgen, beobachtet Otto von F. das Treiben. Ein alter Mann mit einem schwarzen Strumpf über dem Kopf und einem schmalen Schlitz für den Mund spricht zum andächtig lauschenden Publikum.

“Deportation also ist, wie Ihnen schon aus unseren großen und leider bespuckten … ” “Beschissenen”, verbessert “Iwan der Schreckliche”. “Danke, aber das ist nicht richtig”, verbeugt sich der Vortragende, “wie Sie aus unserer heroischen Geschichte wissen, ist die Deportation ein wunderbares Mittel gegen jedes nationale Problem. Das Wichtigste ist, die Tschuktschen ins Tal Ararat umzusiedeln, die Moldawier aufs Franz-Joseph-Land, obwohl das eher den Österreichern läge. Außerdem wird vorgeschlagen, dass einige ihre Gebiete direkt miteinander tauschen: die Litauer mit den Vietnamesen, die Schweizer mit den Chinesen, und die Ungarn mit den Uiguren. Indem wir die Idee von der großen Völkerwanderung unterstützen, werden wir das Entstehen ganz neuer, chimärischer Nationen und Völkerschaften befördern, mit so verdrehten Namen, dass sie sich ihrer selbst schämen werden: Rossijaken, Ukralier, Karelo-Mingrelen, Tscherboslowaten, Rumängolen, Niederbaidschaner, Schwiechen, Greden, Franzusbeken, Kurdofranken, Judoschwaben und Karpatoruthenen. Logen und Ränge geraten in Begeisterung. Eine Woge der Erhebung durchflutet das Amphitheater. Der Vortragende greift einen stürmischen Schlussakkord: “Der GROSSE ZERFALL wird gestoppt! Das GROSSE CHAOS wird besiegt! Die GROSSE SYMPHONIE führt die Menschheit auf eine tausendjährige Wanderung. Wir schützen unsere Heiligtümer durch ein undurchdringliches Gestrüpp von Schlingpflanzen und Kriegsgerät. Ein einziges Orchester der totalen Hörigkeit und … ” – der Vortragende hält einen Moment inne. Das reicht, um “Minin- und-Porscharski”, der bisher aussah, als sei er nicht lebendig, im Duett fragen zu lassen: “Aber wer, wer wird der Chef?” “Das Volk!” versetzt Schwarzstrumpf selbstbewusst, und alle brechen in Gelächter aus.

Eine Polit-Orgie ersten Ranges wird hier aufgeführt, ein apokalyptisches Happening, und Otto von F. reibt sich verwundert seine galizischen Augen. Dies also ist das Innere der ruhmreichen Sowjetunion? Man solle den abtrünnigen Völkern die Unabhängigkeit schenken, bellt der Vortragende weiter, und die Bürger mit Referenden manipulieren, um ihnen die Liebe zum Staat beizubringen, was Gewalt, Betrug und Korruption bedeute. Wenn sie dann erst einmal in den Abgrund stürzten, kehrten sie demütig in die Arme Russlands zurück.

Angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in der Ukraine, die den schon untergegangen geglaubten Putin-Zögling Janukowitsch wieder nach oben spülten und angesichts des neuen russischen Auftrumpfens möchte man Juri Andruchowytsch prophetische Gaben zugestehen. Mit seiner grotesken Parabel “Moscoviada” hilft er uns auf die Sprünge. Sein Held entkommt dem Höllenreigen dann doch noch: mit letzter Kraft flüchtet sich Otto von F. zum Bahnhof und besteigt einen Zug in Richtung Kiew. Nach dem Ausflug in den russischen Untergrund ist die Ukraine das Paradies und der einzig denkbare Ort für einen Dichter.

Juri Andruchowytsch: “Moscoviada”. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag 2006. 223 Seiten.
 
weitere Rezensionen

Martin Sander, Deutschlandradio, 01.11.2007
Ukrainischer Untergrund
www.Perlentaucher.de